Last Updated on 4. Januar 2023 by Marita
Als Eltern haben wir Macht über unsere Kinder
Schon allein körperlich sind wir ihnen überlegen. Wir können sie strampelnd im Buggy anschnallen oder sie einfach hochheben und wegtragen, um vom Spielplatz nach Hause zu gehen. Wenn sie weglaufen wollen, halten wir sie eben am Arm fest.
Wir haben auch die Macht, wenn es um finanzielle Entscheidungen geht. Welche Hose wird gekauft? Wie viele Kugeln Eis sind erlaubt? Und wie viel Taschengeld ist angemessen?
Wir haben die Macht, Entscheidungen zu treffen. Was kommt auf den Tisch? Wohin geht es in den Urlaub? An welcher Schule wird das Kind angemeldet?
Wir können über den Tagesablauf bestimmen. Wann wird gegessen? Wann ist es Zeit, ins Bett zu gehen? Wie viel Medienzeit ist am Computer oder Fernsehen erlaubt? Auch die Entscheidung, wann und wie lange das Kind in Kindergarten, Schule oder Hort bleibt, wird in den meisten Fällen von den Eltern getroffen.
Generell sind Erwachsene Kindern überlegen
Erwachsene haben mehr Lebenserfahrung, sind größer und stärker als Kinder. Deshalb liegt es auf der Hand, sie vor anderen und sich selbst beschützen zu wollen. Das nehmen die meisten als selbstverständlich hin. Doch ist es deswegen auch gerecht und richtig?
Das Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern wird auch als Adultismus bezeichnet. Dieser Begriff besteht aus den beiden Teilen adult = erwachsen und -ismus = Hinweis auf gesellschaftliche Machtstruktur. (vgl. Rassismus, Sexismus)
Kinder leben in einer Welt, die von Erwachsenen für Erwachsene konzipiert wurde. Die Erwachsenen entscheiden, Kinder müssen sich anpassen. Das wird von der Gesellschaft als naturgegeben angesehen.
Gesellschaftliche Machtstrukturen basieren auf einer “erfundenen Wahrheit”. Die jahrhundertelange Versklavung fußte auf der Vorstellung, “dass Sklaven keine vollwertigen Menschen sind”. Dass Frauen lange nicht studieren durften, wurde damit begründet, dass “ihre Gehirne anders aufgebaut sind.” Adultismus wird damit legitimiert, dass sich Kinder nur durch die erzieherische Einflussnahme Erwachsener zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln können.
Das ist Diskriminierung in einer Lebensphase. Das besondere daran ist, dass es die einzige Form von Diskriminierung ist, die Menschen in der Regel aus beiden Richtungen kennenlernen. Die Traumata aus unserer eigenen Kindheit prägen uns bis heute. Es stellt sich also die Frage, ob wir das, was wir selbst als Kind erlebt haben, einfach weitergeben oder ob wir es reflektieren können und wollen.
Macht und Ohnmacht sind Elemente jeder Erziehung. Ausschlaggebend für die kindliche Entwicklung ist jedoch ihr Gebrauch bzw. Missbrauch.
Adultismus, also eine Diskriminierung aufgrund des Alters, liegt dann vor, wenn Erwachsene dieses Verhältnis ausnutzen und Erziehung auf Macht beruhen lassen. Sie bestimmen, meistens mit Strafen. Immerhin wurde in Deutschland im Jahr 2000 (!) die Prügelstrafe offiziell abgeschafft und das Recht auf Gewaltfreie Erziehung im Grundgesetz verankert. Wie viele Eltern dennoch eine Ohrfeige oder Klaps auf den Po unter gewissen Umständen gerechtfertigt finden, lässt sich aber nicht belegen. Doch nicht nur körperliche Züchtigung stellt einen Machtmissbrauch dar. Es fängt schon viel früher an. Wenn Kinder bestraft werden, alltägliche Beschämungen ertragen müssen, Liebesentzug angedroht wird (“Wenn Du jetzt nicht Dein Zimmer aufräumst, lese ich Dir heute keine Gute-Nacht-Geschichte vor!”) oder sie solche Sätze zu hören bekommen:
“Schön langsam laufen!” “Wie sagt man da?!” “Weil ich deine Mutter bin.” “Es gibt keinen Grund zu weinen.” “Warum isst du schon wieder nichts?” “Dafür bist du noch zu klein!” Auch Lob oder Bewertung gehören dazu. “braver Junge”, “liebes Mädchen”, “Das kannst Du aber schon gut.”
Ihre Rolle nicht auszunutzen ist die Herausforderung für Erwachsene. Die Schützende Anwendung von Macht (z.B. Straßenverkehr oder beim Umgang mit Messern) ist in bestimmten Situationen unumgänglich und notwendig. Allerdings ist das Schutz-Argument in vielen Dingen ein Totschlagargument. Unter dem Deckmantel, es gut zu meinen und nur das beste zu wollen, verhalten sich Erwachsene oft übergriffig und respektieren die kindliche Integrität nicht. Beispiele dafür finden sich zu Genüge in den ersten Absätzen dieses Textes.
Erziehung im Laufe der Zeit
Bis ins 20. Jahrhundert war das Ziel von Erziehung, das Kind dazu zu bringen, in der Welt zu “funktionieren”. Hauptzielsetzung war dabei die Unterordnung unter die “Respektspersonen”, die sich den Respekt teilweise mit Schlägen und Beschimpfungen einforderten.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es erste Reformen unter anderen durch die Erkenntnisse von Sigmund Freud, die allerdings durch den Nationalsozialismus beendet wurden. Dr. Johanna Haarers “Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind” war einer der populärsten Mütter-Ratgeber der NS-Zeit, dessen Folgen auf Generationen von Kriegskindern und Nachkriegskindern bis heute nicht abzuschätzen sind. Disziplin, Gehorsam und Fügsamkeit waren die wichtigsten Werte. Ende der 1960er Jahre kamen durch die Hinwendung der 68er-Generation zur Pädagogik Antiautoriäre Erziehungskonzepte (“laissez faire”) auf.
Seit Mitte der 90er Jahre gibt es zum einen den lauter werdenden Ruf zurück zu mehr Disziplin, auf den anderen Seite aber auch Familienberatung und Elternbildung in Richtung einer bedürfnisorientierten Erziehung.
Lob der Disziplin?
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen zum Konzept der Anti-Diskriminierung. So fordert z.b. Bernhard Bueb in seinem Buch “Lob der Disziplin”, dass Erwachsene Kinder führen sollen, wenn es sein muss auch mit Zwang. Eines seiner Argumente für den Erhalt der Hierarchie in Kind-Erwachsenen-Beziehungen ist, dass ein junger Mensch in die gesellschaftlichen Strukturen hineinwachsen müsse. Das Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Zwängen bliebe schließlich auch im Erwachsenenalter bestehen. Die frühe Forderung nach Unterordnung führe über Disziplin zu späterer Selbstdisziplin. Michael Winterhoff schuf gar den Begriff der “Tyrannenkinder” und konstatiert, dass “Deutschland verdummt” (Buchtitel). Deutschlands Eltern hätten es demnach verlernt zu erziehen.
Das kompetente Kind
Die neueren Konzepte legen ein grundsätzlich anderes Menschenbild zugrunde. Anstatt Kinder als unfertige und unfähige Erwachsene anzusehen, die ohne Erziehung unmöglich zu anständigen Staatsbürgern heranwachsen können, nimmt man sie wahr als perfekt ausgestattete Babys, (die wissen, wie sie dafür sorgen, etwas zu essen zu bekommen), Dreijährige, (die alle Fähigkeiten haben, um die Welt zu erkunden und wieder ins sichere Nest zurückzukommen) oder Achtjährige, (die immerzu spielen wollen, um möglichst viel zu lernen). Der dänisches Erziehungsexperte Jesper Juul prägte in seinem Buch “Das kompetente Kind” die Idee von den Erwachsenen “gleichwürdigen” Kindern. Statt ERziehung steht die BEziehung im Vordergrund. Es geht darum, die Bedürfnisse des Kindes zu achten und gleichzeitig persönliche Grenzen aufzuzeigen.
Wie Erwachsene Kindern diskriminierungsfrei begegnen können
Auf der Suche nach Möglichkeiten, es selbst “besser” zu machen, lohnt sich ein Blick in die eigene Vergangenheit. Wo ich habe ich als Kind Adultismus erlebt? Was hätte ich mir damals gewünscht? Wann und wo gab es erwachsene Personen, die mich gesehen haben, auf Augenhöhe mit mir gesprochen und mich ernst genommen haben? Im Kontakt mit Kindern sollte man sich selbst öfter die Frage stellen: Würde ich mit einer erwachsenen Person genauso umgehen? Wenn die Antwort nein lautet, liegt höchstwahrscheinlich Adultismus vor.
“Mein Mann darf heute nicht fernsehen, schließlich hat er den Müll ja nicht rausgebracht.”
“Ich gebe meiner Frau kein Geld mehr für Schokolade. Sie hatte schon ein Eis. Sie weiß einfach nicht, wann es genug ist.”
“Wenn Du Deinen Partner zu oft eigene Entscheidungen treffen lässt, tanzt er Dir irgendwann auf der Nase herum!”
“Mein Nachbar hat neulich mein Beet zertreten. Er hat sich zwar entschuldigt, aber ich habe trotzdem ordentlich mit ihm geschimpft. Sonst lernt er das ja nie!”
Diese Sätze klingen absurd. Trotzdem haben wir sie so oder so ähnlich schon oft in Bezug auf Kinder gesagt oder gehört.
Adultismus ade – Augenhöhe ist angesagt
Dies ist kein Plädoyer dafür, Kinder komplett sich selbst zu überlassen (laissez-faire), sondern vielmehr, ihnen gleichwürdig auf Augenhöhe zu begegnen. Einen guten Grund (in GFK Bedürfnis) hinter ihrem Verhalten zu vermuten. Ihnen das bestmögliche Motiv für ihre Handlungen zu unterstellen. Die eigenen Gefühle nicht mit dem Tun der Kinder zu verknüpfen (“Du machst mich wahnsinnig!”) und im Umgang miteinander nach Lösungen suchen, die beide Positionen miteinander verbinden.
Am Ende stehen glücklichere Menschen. Menschen, die sich innerlich freier fühlen. Die sicher sind, eine Stimme zu haben und gehört zu werden. Dadurch hätten sie auch später das Gefühl, dass sie in der Gesellschaft etwas bewirken können. Dann hätten sie auch mehr Mut und mehr Lust, an gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben, Dinge zu verändern. Sie hätten nicht das Gefühl, dass sie durch eine höhere Macht unterdrückt sind und würden viel motivierter durchs Leben gehen.
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An sich ein sehr schöner Artikel, aber ich finde es unheimlich schwer Bedürfnisorientiert zu leben. Wir haben es damals leider nicht so kennen lernen dürfen und mussten funktionieren, das hängt in den Köpfen fest. Verhaltensmuster wurden antrainiert und die brechen automatisch wieder durch in Stresssituationen. Manchmal hat man auch das Gefühl, dass nur die Drohung „Gehst du jetzt nicht endlich ins Bett, dann gibt es morgen kein Fernsehen!“ – hilft um die Kinder Nachts endlich zum schlafen zu bringen.
Jedesmal wenn ich mit aller Kraft versuche, keine Strafen zu benutzen, dann werden meine Grenzen nicht gewahrt. Zum Beispiel weil die Kinder definitiv nicht vor 22 Uhr im Bett sind – wieso auch? Kompromissbereitschaft (wie ich immer lese) ist da nicht zu finden! Da kann ich ihnen vorschlagen dass ich ihnen eine tolle Geschichte vorlese oder sonstiges und sie springen sofort darauf an, aber sobald die Geschichte dann vorbei ist, stehen sie wieder auf und weigern sich ins Bett zu gehen. Süßigkeiten essen sie ohne Regelungen und Verbote bis sie platzen und auch sonst wird in keinster Weise Rücksicht auf MEINE Grenzen genommen. Bedürfnissorientiert zu leben ist schön und gut! – Allerdings sollten dabei ALLE Bedürfnisse gewahrt werden – auch die der Eltern!
Das wirklich hinzubekommen, ist für mich die schwerste Aufgabe des Universums.
Liebe Justine, oja, es ist schwer! Wir haben es meistens selbst nicht in unserer Kindheit gelernt, unsere Bedürfnisse zu erkennen und aussprechen zu dürfen. Gerade in Stresssituationen greift unser Gehirn dann eben auf altbekannte Muster zurück. Wie viel einfacher ist es, zu „drohen“ oder zu „belohnen“ – und das fiese ist, es funktioniert ja auch, zumindest kurzfristig.
Du klingst ziemlich frustriert und wünschst Dir Leichtigkeit und Harmonie, ist es das? Du willst auch gesehen werden mit Deinen Gefühlen und dem, was Dir wichtig ist. Da ist diese Angst, selbst übergangen zu werden, wenn ich die Bedürfnisse der andere erfülle, oder?
Vielleicht hilft Dir die Sichtweise, dass Du für Deine Bedürfnisse verantwortlich bist. Wenn Du dies nicht an die andere übergibst („sie sollen auf meine Bedürfnisse Rücksicht nehmen“), sondern selbst in der Hand hast, bist Du handlungsfähiger. Was würde sich für Dich erfüllen, wenn das Kind vor 22 Uhr ins Bett geht? Vielleicht Ruhe? Entspannung? Und wie kannst DU DIR dieses Bedürfnis erfüllen – unabhängig davon, was Dein Kind tut?
WEnn wir auf der Bedürfnisebene ankommen, geht es auch nicht mehr um Kompromisse (die ja meistens für alle nicht so 100% zufriedenstellend sind), sondern um echte Lösungen, die zu beiden Bedürfnissen passen.
Hast Du schon die Artikelreihe BEziehung vor ERziehung hier im Blog gelesen? Darin kommen auch konkrete Strategievorschläge vor…
Wie geht es Dir, wenn Du das von mir liest?
Grüße von Herzen,
Deine Marita
Liebe Marita,
Ich würde mir in aller erster Linie mal entspannte Zeit mit dem Ehemann wünschen, aber die Kinder abgeben, das kann ich nicht. Die „kleine große“ ist ein absolutes Mama Kind und der Kleine ist noch ein Baby. Ruhe für mich ist ein Fremdwort, das liegt aber nicht daran, dass ich es nicht probieren würde, sondern dass einfach keine Rücksicht genommen wird. Möchte ich zum Beispiel Sport machen und bitte den Ehemann die Kinder für eine halbe Stunde zu nehmen, dann tanzen sie beide um mich rum und der Ehemann steht daneben, mit den Worten :“Sie wollen halt zur Mama“! Das ist dann wenig hilfreich.
Aber vorallem die gemeinsame ungestörte Zeit als Ehepaar fehlt. Ich bin da garnicht anspruchsvoll. Mir würde schon alle paar Tage mal eine ruhige Stunde Abends zu zweit reichen. Aber wenn die Kinder bis 22 Uhr wach sind und der Mann um 5 Uhr morgens aus dem Haus muss, dann bleibt da keine Zeit für und glaube mir wir haben alles versucht. Von totalem auspowern über mehr Ruhe, über Fernsehkarenz und Zuckereinschränkungen über alles erlauben und selbst entscheiden lassen, von Kompromisse finden und und und … es hat nichts gebracht. Das Kind war weiterhin um 22 Uhr Abends im Bett.
Ich mag keine Gewalt in Erziehungen aber ich verstehe leider dass eine Drohung :“du darfst morgen nicht mit deiner Freundin spielen wenn du nicht endlich ins Bett gehst!“ – sehr viel schneller ausgesprochen ist als stundenlanges Gerede.
Ja, das kann gut sein das die Verzweiflung in meinen Texten durch kommt, wenn man doch so gerne Beziehung leben würde, aber man das Gefühl hat, das es nicht zu funktionieren scheint.
Das bringt mich echt an meine Grenzen. Vorallem fühle ich mich dann immer total schlecht, wenn ich dann mal wieder „versagt“ habe.
Liebe Justine,
du klingst ziemlich verzweifelt. In Deinen Gedanken hast du „versagt“, bist vielleicht sogar eine „schlechte Mutter“, weil Du Deinen Idealvorstellungen nicht genügen kannst. Du möchtest gern eine gute Beziehung auf Augenhöhe zu Deinen Kindern und eben nicht drohen und schimpfen. Gleichzeitig ist Dein Akku total leer und Du brauchst Ruhe und Zeit für Dich und mit Deinem Partner, um wieder aufzutanken. Ist es das?
Das ist Dein Bedürfnis – dass die Kinder dafür im Bett sein sollten, ist „nur“ eine Strategie. Wie könnt ihr gemeinsame Zeit haben, auch wenn die Kinder wach sind? Worum geht es den Kindern? Wenn beide Seiten gesehen werden, können neue Lösungsideen entstehen. Können die Kinder einfach Hörspiele hören oder fernsehen – und ihr könnt euch in dieser Zeit unterhalten? Oder könnt ihr gemeinsam einen Abendspaziergang machen, bei dem die Kinder evt. im Wagen einschlafen (ich weiß jetzt nicht, wie alt sie sind)? Oder kann ein Babysitter für 1-2 Stunden einfach mit den Kindern spielen – ihr müsst ja nicht mal das Haus verlassen, wenn das ein Problem sein sollte. Wie geht es Dir mit diesen neuen Ansätzen?