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Es kommt mir vor, als würde ich am Strand stehen. Ablaufendes Wasser, das mir ein bisschen den Boden unter den Füßen wegspült. Ich bewege meine Zehen, damit sie wieder festen Stand bekommen. Eine Muschel liegt noch neben mir im Sand. Ich schaue aufs Meer.

Mein Bonuskind ist gerade gefahren. Der Abschied war wie immer hektisch.

„Hast du alles gepackt? Schnell, die Bahn fährt gleich! Alles klar, bis in zwei Wochen.“

Eine Schwester möchte ihn nochmal umarmen. Er hat keine Lust, setzt sich seinen Rucksack auf. Weg ist er.

Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Um umzuschalten von drei Kindern auf zwei. Um zu verstehen, dass das Pulverfass nicht explodiert und für den Moment entschärft ist.

Die Mädchen sind im Kinderzimmer und beschweren sich, dass er sein Lego nicht weggeräumt hat. Dann fangen sie an, damit zu spielen.

Der Boden unter meinen Füßen

Ein kurzer Moment

Ich atme tief ein. Salzige Luft, kalt und klar. Ausatmen. Freiheit. Am Himmel kreischen ein paar Möwen. Frei sein. Wegfliegen. Für einen Moment schließe ich die Augen, lasse die gemeinsame Zeit an mir vorbeiziehen.

Der Anfang war holprig, am nächsten Tag wurde es besser. Wenn er hier ankommt, ist er immer „auf Werkseinstellung zurückgesetzt“. Übergänge sind ein Problem. Wir haben zusammen Pfannkuchen gebacken und Schach gespielt. Die Geschwister hatten Zeit miteinander. Etwas Streit, lautes Toben, alles ganz normal.

Ich atme tief durch. Dieser Moment, wenn sich die Welle gerade zurückgezogen hat. Ein Augenblick zum Durchatmen. Ich spüre in meinen Bauch. Da ist eine leichte Angst, eine Unsicherheit. Was kommt als nächstes? Nie kann ich mich vollständig entspannen. Ein Teil meiner Aufmerksamkeit ist immer hinten auf dem Wasser. Ich weiß genau, die nächste Welle lässt nicht lange auf sich warten. Was bringt sie diesmal mit? Wird sie so hoch und so wuchtig sein, dass ich nasse Hosenbeine bekomme? Spült sie etwas an? Das weiß ich erst, wenn sie wieder anbrandet.

So fühlt es sich an, wenn mein Bonuskind gerade nicht da ist. Er ist wie von einem schwarzen Loch verschluckt.

  • Was macht er?
  • Wie geht es ihm?
  • Mit wem trifft er sich?
  • Was liegt in der Schule an?

Wir erfahren wenig bis nichts darüber. Er hat jetzt ein Handy. Wenn man Glück hat, antwortet er auf WhatsApp-Nachrichten. Einsilbig. Er redet generell nicht viel. Wenn eine Info kommt, ist es immer etwas Schlimmes. Ärger in der Schule. Die Unterschrift des Vaters wird gebraucht.

Schwarzer Himmel

Die leise Wut im Bauch

Ich werde wütend. Ja, ich wollte am Meer wohnen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass ständig Sturmflut ist! Hinten auf einem Boot sehe ich eine Frau. Sie paddelt auf dem Wasser. Die wird nie nass. Ich kriege die ganze Wucht der Wellen ab. Das regt mich auf. Blöde Wellen. Blödes Meer. Ich habe keine Lust mehr.

Manchmal kommt er, dieser fiese Gedanke: Ich wünschte, er hätte keine Kinder. Dann wäre alles so leicht, so harmonisch. Ich könnte mir das Leben so einrichten, wie ich will. In unserem schönen Stadtteil, mit allen Zimmern im Haus, die perfekte Schule für meine Kinder. Das ist vielleicht das Schwerste am Patchwork: dass eine komplett andere Welt in mein Leben reinfunkt.

  • Mein Bonuskind hört Musik, die gar nicht geht.
  • Er trägt Klamotten, die ich unmöglich finde.
  • Seine Wortwahl macht mich wahnsinnig, seine Tischmanieren, das Weltbild seiner Mutter.

Ich muss nicht nur andere Werte akzeptieren, ich muss mit ihnen leben. In meiner Welt.

Souverän und standfest

Ich schaue wieder aufs Meer. In einer Bucht sehe ich einen Leuchtturm. Groß, stark, felsenfest. All die Wellen können ihm nichts anhaben. Er steht da und macht seinen Job. Unbeirrbar.

Standfester Leuchtturm mitten in den Wellen

Ich würde alles anders machen. Ich hätte von Anfang an alles anders gemacht. Seit 12 Jahren versuche ich, etwas zu bewirken. Es ist zum Verzweifeln. Wie viel Einfluss kann ich denn schon nehmen, wenn ich nur wenige Tage im Monat die Gelegenheit dazu habe?

Ich bin da. Ich begleite. Lebe vor, wie man Konflikte lösen kann. „Uns ist hier wichtig, dass alle mit ihren Bedürfnissen gesehen werden.“ Unden, Familienkonferenz. Ich unterstütze die Geschwister bei ihren Anliegen, alle drei.

Jedes Mal wieder fange ich von vorne an. Keine Strafen, keine Lügen. Was davon kommt bei ihm an? Ist nur sein Gehirn in einer Umbauphase? Oder ist es unmöglich, gegen die „anderen“ Werte anzukommen. Trennungskinder im Loyalitätskonflikt. Ich weiß das alles, und trotzdem ist es immer wieder schwer. Ich muss damit klarkommen, dass ich nicht wirksam bin. Noch nicht. Vielleicht merkt man es erst in 10 oder 20 Jahren. So ist das doch immer bei Erziehung. Im Patchwork ist es härter, unsicherer.

WILL ich das?
Will ICH das?
Will ich DAS?

Da sein und leuchten

Ich schaue zum Leuchtturm. Wellen brechen sich an seinem Turm. Er steht da und leuchtet. Immer noch. Er läuft keinen Schiffen hinterher, um sie zu retten. Wenn doch ein Schiff untergeht, macht er sich keine Vorwürfe. Er hat getan, was er konnte: Da sein und leuchten. Das ist alles und das genügt.

Das darf ich lernen. Immer wieder.

Es ist nicht egal, was ich tue. Wir wissen nicht, wann und wo wir wirksam sind. In Filmen erzählen berühmte Wissenschaftler, wie sie durch einen einzigen Satz von einer Lehrerin angefangen haben, an sich zu glauben. Deshalb sind sie da, wo sie jetzt sind.

Wer weiß, was aus meinem Bonuskind mal wird. Wer weiß, was ohne mich aus ihm geworden wäre. There is no glory in prevention. Wir sehen nicht, was wir verhindern und selten, was wir erreichen.

Wir können nur da stehen und leuchten. Auch im Sturm. Gerade dann, wenn die Wellen hochschlagen.

Leuchtturm in der Nacht

Kraft schöpfen

Die Welle hat sich zurückgezogen. Was tue ich jetzt? In dieser kurzen Phase, dieser Ruhe vor dem Sturm? Der Gedanke an die nächste Welle lähmt mich. Ich stehe da, unfähig zu handeln.

Mein Herz ist überarbeitet.

Ich merke, wie anstrengend es ist, immer und immer wieder verstehen zu wollen, was bei den anderen los. Ich habe Empathie für alle. Ich kann die Perspektive wechseln.

Er ist ein Trennungskind mit all den Problemen, die das mit sich bringt. Seine Mutter tut ihr bestes, auch wenn ich das Beste nicht gut finde. Die Kleine bewundert ihren großen Bruder. Sie findet alles toll, was er tut und was er sagt (sheesh, Digga!). Ich möchte meine Kinder schützen, aber beim nächsten Umgangswochenende wird mir alles wieder vor die Füße gespült. Ich kann es nicht verhindern, nur mich darauf vorbereiten.

Vertrauen

Ich atme nochmal tief ein und aus und schaue aufs Meer. Soll ich mich hinsetzen, ausruhen? Weglaufen? Die Hosenbeine hochkrempeln? Eine Sandburg bauen, mit einem tiefen Graben gegen die nächste Flut?

Ich habe mich entschieden für diesen Mann mit Kind. Mit allem, was das mit sich bringt. Commitment, ohne Wenn und Aber. Es geht schon lange nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Was kann ich tun, um meine Schale aufzufüllen? Kraftreserven tanken. Ich mache jeden Morgen meine Dyaden-Meditation. Ich habe einen Coach an meiner Seite. Ich versuche, meine Balance zu finden zwischen Nähe und Distanz, Sicherheit und Freiheit, Kontrolle und Loslassen. Ich übe mich im Vertrauen.

Darin, dass alles einen Sinn hat.

Dass es meine Aufgabe ist.

Dass ich es schaffe.

Dass alles gut wird.

Ganz weit in der Ferne sehe ich am Horizont, wie die Sonne den Himmel bunt malt. Wenn ich einfach nur dorthin schaue, sieht es wunderschön aus. Das Meer. Glitzerlichter auf dem Wasser. Weite. Ruhe. Freiheit.

Eines weiß ich sicher: Die nächste Welle kommt bestimmt.

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Das hat geklappt!

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